S. Bossert: David Frankfurter (1909–1982)

Cover
Titel
David Frankfurter (1909–1982). Das Selbstbild des Gustloff-Attentäters


Autor(en)
Bossert, Sabina
Erschienen
Wien 2019: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
550 S.
von
Patrick Kury

Im vergangenen Jahr sind gleich zwei beeindruckende Studien erschienen, die sich mit dem Gustloff-Attentäter David Frankfurter und dem Umfeld des NSDAP-Landesgruppenleiter der Schweiz, Wilhelm Gustloff, befassen. Der unlängst verstorbene, frühere Ordinarius für Geschichte der Universität Luzern, Guy Marchal, lässt in seinem letzten Buch das Lesepublikum ungewohnt nahe an seiner Recherche teilhaben. Der «Forschungskrimi» «Gustloff im Papierkorb» beginnt damit, dass der Autor Jahrzehnte zuvor von seinem Vater einige Papierschnipsel erhalten hat, die, wie sich im Verlauf der Recherchen herausstellt, Widerstand im Kleinen dokumentieren. Die Schnipsel führen zur Nazivergangenheit des Geschäftspartners und Schwagers von Marchals Vater und schliesslich zu Wilhelm Gustloff sowie den Netzwerken ins nationalsozialistische Deutschland. So beleuchtet der Autor die Agitation der Nationalsozialisten in der Schweiz und wie es diese nach dem Krieg verstanden, sich von ihrer Vergangenheit reinzuwaschen.

Einen klassischeren Weg historischen Arbeitens wählte Sabina Bossert, Fachreferentin für jüdische Zeitgeschichte am Archiv für Zeitgeschichte in Zürich. Sowohl die Forschungsintention im Rahmen ihrer Qualifikationsarbeit als auch die Quellenlage präsentieren sich hier anders. Innovativ ist Bosserts umfangreiche Dissertation «David Frankfurter (1909–1982). Das Selbstbild des Gustloff-Attentäters» dennoch, da sie die Sichtweisen und Motive des Täters in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung stellt und damit die Forschung um eine zentrale Perspektive erweitert.

Am 4. Februar 1936 erschiesst der aus dem heutigen Kroatien stammende, an der Universität Bern eingeschriebene Student David Frankfurter den NSDAP-Landesgruppenleiter Wilhelm Gustloff in dessen Wohnung in Davos. Wenig später stellt sich Frankfurter der dortigen Polizei. Die Geschichte von David Frankfurter ist somit «die Geschichte eines Mordfalls, bei der der Täter von Anfang feststeht», hält Sabina Bossert einleitend fest. Nichtsdestotrotz haben sich die historische Forschung sowie zahlreiche publizistische Beiträge ausschliesslich mit Frankfurters Tat und dem anschliessenden Prozess in Chur beschäftigt, der national wie international grosses Aufsehen erregte. Kürzere Untersuchungen beschäftigten sich mit der Rezeptionsgeschichte in der Schweiz und in Deutschland oder mit Frankfurters Begnadigung nach Kriegsende. David Frankfurters Memoiren hingegen, seine persönliche Sicht auf die Tat, blieben mit Ausnahme von ein paar wenigen Beiträgen wie etwa einem Aufsatz von Thomas Willis aus dem Jahr 2009 aussen vor. Eine populäre Ausnahme bildet der Film «Konfrontation» des bekannten Schweizer Regisseurs Rolf Lyssy von 1975, der sich für die Motive des Attentäters interessierte. Doch wie wir Bosserts Studie entnehmen können, war David Frankfurter, der im Film selbst zu Wort kommt, mit dem Produkt und den von Lyssy gesetzten Schwerpunkten mehrheitlich nicht einverstanden. Bossert ergänzt nun die Forschung zu Frankfurter durch seine Memoiren und Briefe, die durch ergänzende Quellen flankiert werden.

Sabina Bossert erzählt die Geschichte David Frankfurters chronologisch in vier Kapiteln. Sie bilden den inhaltlichen Kern des Buches. Frankfurter kommt in Daruvar in der damaligen Habsburgermonarchie 1909 zur Welt. Nach einer weitgehend «ungetrübten» Kindheit und Jugend in einer Rabbinerfamilie beginnt er seine Studienzeit in Leipzig und wechselt von dort nach Frankfurt am Main, wo er die Machtergreifung der Nationalsozialisten erlebt. Vor dem Hintergrund des rasch wachsenden Antisemitismus quälen ihn bereits damals erste Mordgedanken. 1935 übersiedelt er nach Bern, wo die Idee, einen politischen Mord zu begehen, weiterreift. Dies geht nicht zuletzt aus seiner in den Memoiren festgehaltenen Interpretation der schweizerischen Gründungsmythen hervor: «der Tyrannenmord war die eigentliche Stiftungsakte dieser europäischen Demokratie. Die Armbrust Tells, die Waffe, mit der er den Zwingherrn niederstreckte, der aller Menschenrecht und aller Menschen Würde mit Füssen getreten – sie war zum Wahrzeichen der Schweiz geworden». Dem folgenreichen Jahr 1936 ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Es beginnt mit der Reise nach Davos Ende Januar, der Tat vom 4. Februar und endet mit den letzten Vorbereitungen für den Mordprozess im Dezember desselben Jahres. Es folgen die Schilderung des Prozesses samt Urteilsverkündung vor dem Churer Strafgericht sowie die schwierige Zeit in der Strafanstalt Sennhof. Ein weiteres Kapitel behandelt die Jahre nach Kriegsende mit Frankfurters Entlassung aus der Haftanstalt, seiner Übersiedlung nach Palästina sowie seinem Leben in Palästina / Israel bis zu seinem Tod 1982. Dieser Teil basiert nicht mehr auf Frankfurters Memoiren, gibt aber einen vielfältigen Einblick in sein Leben in der Alija.

Diesem biografiegeschichtlichen Teil vorangestellt sind Kapitel zum Forschungsstand sowie zum methodisch-theoretischen Zugang. Neben den Bemerkungen zum lebensweltlichen Ansatz, der insbesondere an der Universität Basel gepflegt wird, sowie zum Themenkomplex «jüdischer Widerstand», gilt es vor allem Bosserts Ausführung zum quellenkritischen Umgang mit David Frankfurters Memoiren zu beachten. Diese entstanden nämlich erst zehn Jahre nach der Tat, im Frühjahr 1946 in Palästina. In einem über mehrere Wochen dauernden Austausch mit dem deutsch-israelischen Religionswissenschaftler Schalom Ben-Chorin, schrieb dieser Frankfurters Erinnerungen nieder. Man kann Sabina Bossert Position teilen, dass es sich bei den Memoiren um David Frankfurters Selbstsicht handelt, allerdings gilt es zu ergänzen, in den Worten Ben-Chorins. Der historische Mehrwert dieser Selbstsicht-Perspektive wird dennoch sogleich sichtbar, nämlich in dem Sinn, dass Frankfurters Memoiren eine kontroverse Position zu den bestehenden Quellen einnehmen. Dies ist während des Prozesses der Fall. David Frankfurter Einschätzung der Tat weicht vom Gutachten ab, das vom heute teilweise umstrittenen Psychiaters Johann Benedikt Jörger verfasst wurde. Ähnliches gilt auch während des Begnadigungsverfahrens. Zwar hatten bereits David Frankfurter und Ben-Chorin die Prozessakten eingefordert, doch diese wurden ihnen aus rechtlichen Gründen nicht ausge händigt. In Bosserts Studie konnten nun diese unterschiedlichen Positionen in die Analyse einbezogen werden. Aufschlussreich sind schliesslich auch Bosserts exkursartigen Überlegungen zum jüdischen Widerstand. Sie bezeichnet Frankfurters Attentat auf Gustloff als frühe Widerstandstat und ordnet diese einem erweiterten Widerstandsbegriff zu. Zwar war Frankfurter in der Schweiz anders als bekanntere spätere Widerstandskämpfer wie die Kombattanten im Warschauer Ghetto oder die jüdischen Partisanen in den Wäldern Osteuropas nicht an Leib und Leben gefährdet, doch machte er mit seiner Tat zu einem frühen Zeitpunkt auf die Verbrechen eines tyrannischen Regimes aufmerksam.

Bossert erweitert die Forschung zu David Frankfurter in einem zentralen Punkt und ergänzt damit die Forschungen zur Geschichte der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus. Bildhafter Ausdruck dieses wissenschaftlichen Mehrwerts sind auch die zahlreichen, teilweise erstmals veröffentlichen Fotografien, die den schönen Band illustrieren.

Zitierweise:
Kury, Patrick: Rezension zu: Bossert, Sabina: David Frankfurter (1909–1982). Das Selbstbild des Gustloff-Attentäters, Wien / Köln / Weimar 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (2), 2021, S. 379-381. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00088>.

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